Warum sollte man nicht in der Lage sein, sich eine Meinung zu bilden?
Es ist gut, wenn man sich keine schnelle Meinung bildet. Wer sich eine schnelle Meinung bildet ohne von einem Thema bereits einiges — fundiert — zu wissen, greift vermutlich vor allem auf Vorurteile zurück.
Dann gibt es kontroverse Themen, bei denen geht es um Bedürfnisse. In diesen Themen gibt es oft kein Richtig und kein Falsch, sondern unterschiedliche Bedürfnisse, die gegeneinander abgewogen werden müssen.
Es ist vollkommen in Ordnung, in einem solchen Fall keine klare Meinung zu haben, die einer der beteiligten Seiten zuzuordnen ist. Es ist völlig in Ordnung, in einem solchen Fall zu sagen: “da bin ich ambivalent, denn ich verstehe beide Seiten”.
Es gibt Fälle, da geht’s auch um Bedürfnisse, aber die beteiligten Seiten sind unterschiedlich stark betroffen.
Dann tut man gut daran, zu versuchen einen Schritt zurück zu treten und sich anzusehen, welche Seite stärker betroffen ist, stärker eingeschränkt würde, würde den Bedürfnissen der anderen Seite nachgegeben.
Das ist nicht selten der Fall, wenn es um Bedürfnisse von Angehörigen einer Minderheit auf der einen Seite und Angehörigen der Mehrheit auf der anderen Seite geht. Oft wären Angehörige von Minderheiten überproportional stark betroffen, wenn man der Mehrheit den Willen gibt, oder sogar bei einem auf den ersten Blick gerechten Kompromiss.
Deswegen konzentriert sich jede gute Demokratie auf den Schutz von Minderheiten. Daher auch das geflügelte Wort, dass man, um zu wissen, wie es um eine Gesellschaft steht, ansehen muss, wie sie mit den Schwächeren der Gesellschaft umgeht.
Dann gibt es kontroverse Themen, die kontrovers sind, weil sich Gefühle und Fakten gegenüberstehen.
Hier wird es schwieriger.
Etwas kann faktisch richtig sein und dennoch eine unzumutbare Härte für manche betroffenen Personen oder Gruppen. In einem solchen Fall ist es vollkommen in Ordnung, sich sehr lange keine Meinung zu bilden, bis sich das Bild irgendwann klärt.
Wer sich für das Thema interessiert und mehr darüber lesen will, was man tun kann, wenn Fakten und Gefühle oder Traditionen im Konflikt stehen, in der politischen Philosophie spricht man hier auch von “Rule and Exemption”.
Dann gibt es Fälle, da stehen irrationale Gefühle, irrationale Ideologien im Konflikt mit Fakten.
Hier tut man gut, sich genauer anzusehen, ob die Gefühle oder Ideologien wirklich irrational sind, und die Fakten gut und zutreffend. Aber wenn sich das jeweils bestätigt, tut man gut daran, sich auf die Seite der Fakten zu schlagen.
Beispielsweise wäre Inklusion behinderter Menschen in die Schulen und auf den ersten Arbeitsmarkt für die Gesellschaft besser und auf Dauer wahrscheinlich sogar billiger. Aber Gefühle (Berührungsängste, teils gar Behindertenfeindlichkeit oder die Befürchtung nun auch noch in behinderten Menschen Konkurrenz zu haben) und eine starke Wohlfahrtsideologie einiger Parteien, verhindert dass bisher.
Dann gibt es noch Fälle, in denen stehen Fakten Lügen gegenüber. Hier ist es nicht immer leicht, zu erkennen wer lügt und wer die Fakten auf seiner Seite hat. Aber man sollte anstreben, das zu erkennen und sich dann entsprechend auch auf die Seite der Fakten schlagen, weil Lügen immer schaden.
Deswegen ist es wichtiger, zu lernen, echte Experten von falschen unterscheiden zu können, als selbst Wissen über einen Bereich zu besitzen. Deren Job ist es, Lüge von Wahrheit zu trennen und sichtbar zu machen.
Eine eher schlechte Basis sich eine Meinung zu bilden, ist, sich lediglich die (finanziellen) Abhängigkeiten beider Seiten anzuschauen.
Die können durchaus relevant sein, aber man muss genau hinsehen.
Schlechtes Beispiel aus der Pandemie: anhand der finanziellen Abhängigkeit, von einem Gehalt einer staatlich finanzieren Universität rückzuschließen, dass Experten der Regierung nach dem Mund reden würden und das bereits berentete Experten deswegen automatisch glaubwürdiger wären.
Das ist unterkomplex, vor allem, wenn nicht in Betracht gezogen wird, das es durchaus andere als finanzielle Anreize gibt (die auch stärker sein können), wie Ruhm (auch wenn es nur der Ruhm in einer kleinen Subkultur ist). Oder wenn nur die finanziellen Abhängigkeiten einer Seite überhaupt in Betracht gezogen werden und die der anderen Seite nicht, selbst wenn diese deutlich außerhalb eines normalen Gehalts oder einer normalen Studienfinanzierung liegen. Wie zum Beispiel die Finanzierung der Santa Clara Studie durch eine Fluggesellschaft.
Abhängigkeiten (finanziell, ideell und persönlich) müssen auf jeden Fall in Betracht gezogen werden. Aber nicht einseitig und nicht voreingenommen.
Ebenfalls eine eher schlechte Basis, sich eine Meinung zu bilden, ist Tribalismus.
Also beispielsweise: ich wähle Partei X und Politiker Y hat einer anderen Politikerin an den Busen gefasst. Und ich bin zwar eigentlich gegen Sexismus und fände das auch total eklig, wenn es jemand von der Partei macht, die ich nicht wähle, aber weil Politiker Y von der Partei ist, die ich wähle, finde ich es in Ordnung.
Konnte man zum Beispiel bei Wählern der Republikaner beobachten, die Trump trotz bekannter sexueller Übergriffe gut finden, aber Bilder von Biden hypen, in denen er an den Haaren seiner Nichten oder Enkelinnen riecht und ihm daher pädophile Neigungen unterstellen.
Auch auf kleinerer Ebene, wenn jemand aus der eigenen Familie, der eigenen Klasse, dem eigenen Freundeskreis etwas wirklich falsches tut oder sagt, … Loyalität ist eines, aber wenn man sich in seinen Ansichten nur noch von Tribalismus leiten lässt, läuft man in Gefahr, ziemlich blöde Meinungen zu vertreten.
Auf jeden Fall gehört zum Bilden einer Meinung dazu, sich nicht nur von Instinkten leiten zu lassen und auch nicht immer die Meinung dessen zu übernehmen, der die bessere Geschichte zu erzählen scheint, sondern sich in Ruhe mehrere Aspekte ansieht, bevor man sich seine Meinung bildet.
Gut ist auch, mit einer einmal gefassten Meinung nicht zu sehr verheiratet du sein, sondern bereit zu sein, sie zu überdenken, anzupassen oder auch aufzugeben, wenn bessere Informationen oder neue Aspekte auftauchen.
Dabei hilft: Medienkompetenz, ‘Information literacy’, sich die eigenen Vorurteile bewusst zu machen und auch die Überzeugungen, die man nicht aufgeben möchte und unbedingt zu lernen, gute Experten von schlechten Experten unterscheiden zu lernen.
All das macht Arbeit, ja.
Von daher lautet die Antwort auf die Frage vermutlich: weil die Kontroverse zu lesen oder ihr zuzuhören, alleine noch nicht reicht, und die notwendige Arbeit, sich eine Meinung zu bilden, noch nicht erbracht wurde.