Es macht zuerst Sinn, die Entstehungsgeschichte des Begriffs etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Sehr oft wird er als “linke” Parole oder Sammlung von Vorschriften gelesen, an die man sich zu halten habe. Oder sonst!!
Tatsächlich stammte der Begriff auch erst mal aus der “linken” Ecke des politischen Spektrums, nämlich aus der Zeit der russischen Revolution, wo es für “sich strikt an die Parteilinie halten” stand.
Später wurde der Begriff in linken Kreisen manchmal in satirischem Kontext verwendet.
Etabliert und in die öffentliche Debatte getragen wurde der Begriff aber erst in den 80er und 90er Jahren in den USA und dort vorwiegend durch politische Kommentatoren damals ungefähr auf Reagans Linie standen, inzwischen aber mehrheitlich sehr viel weiter nach rechts gewandert sind.
Der Begriff “political correctness” wurde als gezieltes Framing aufgebaut, mit dem progressive gesellschaftliche Aushandlungsprozesse oder Experimente, wie im Bildungsbereich, der damaligen Zeit angegriffen und in der öffentlichen Debatte auch abgewertet werden sollten.
Herbert Kohl, ein amerikanischer Lehrer und Begründer des “Open School Movements” (sehr grob mit der Idee einer Gesamtschule vergleichbar) fasst die Anfänge der Begriffsverwendung wie folgt zusammen:
It is a clever ploy on the part of neoconservatives, a number of whom were former CP members and know how the phrase “politically correct” was used in the past, to insinuate that egalitarian democratic ideas are actually authoritarian, orthodox, and Communist-influenced when they oppose the right of people to be racist, sexist, and homophobic.
Uncommon Differences: On Political Correctness, Core Curriculum and Democracy in Education
Also übersetzt:
Es ist ein geschickter Schachzug von Seite der Neokonservativen, von denen einige vorher Mitglieder der kommunistischen Partei waren und wussten, welche Verwendung die Phrase “politisch korrekt” in der Vergangenheit hatte, anzudeuten, dass egalitäre (also der Gedanke, dass alle Menschen gleich(berechtigt) sind oder sein sollten), demokratische Ideen in Wirklichkeit autoritär, orthodox (strenggläubig/altgläubig) und von Kommunisten beeinflusst seien, wenn diese gegen das Recht von Menschen stehen, rassistisch, sexistisch und homophob zu sein.
Uncommon Differences: On Political Correctness, Core Curriculum and Democracy in Education
Der Begriff “politisch korrekt” oder “political correctness” ist also der Versuch, den gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, dass wir Menschen nicht wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Sexualität etc. wegen abfällig behandeln wollen und versuchen gleiche Rechte für alle Menschen herzustellen, als Vorgang der Unterdrückung darzustellen.
Das ist der erste Punkt, an dem man kurz innehalten kann und nachdenken kann, mit welchem Gedankengut man sich gemein machen möchte.
Darüberhinaus gibt es in einer Gesellschaft Verhaltensnormen, die sich im Idealfall durch eine zivilgesellschaftliche Aushandlung etablieren.
Das ist die Vorgehensweise in einer Demokratie.
Wenn Verhaltensnormen “von oben” diktiert werden, reden wir im allgemeinen von einem autoritären oder diktatorischen Regime.
Darunter fällt z.B. dass wir unbekannte Menschen auf der Straße nicht Duzen, älteren Passagieren einen Sitzplatz anbieten, eine Person mit Doktortitel mit diesem vorstellen, statt als “das ist der Kalle, der macht was in Physik”, aber auch Übereinkommen, dass es z.B. als unhöflich gilt, zu einem Termin zu spät zu kommen oder eine Lüge als Vertrauensbruch gewertet werden kann etc. etc.
Keine dieser Verhaltensnormen wird mit (staatlicher) Gewalt durchgesetzt. Man kann fremde Menschen auf der Straße dutzen, man kann zu spät kommen, man kann lügen, dass sich die Balken biegen und wie viele Menschen in der Realität für ältere Fahrgäste aufstehen, sieht man täglich in den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Entsprechend werden auch die Verhaltensnormen, dass rassistisch, sexistisch, behindertenfeindlich oder homophob zu sein, nicht mit Gewalt oder Zwang durchgesetzt.
Damit ist ein wichtiges Zensurmerkmal nicht gegeben.
Nun kann aber, wer zu einem wichtigen Termin zu spät kommt, den Job nicht bekommen. Einfach als Konsequenz aus dem Bruch einer gesellschaftlich ausgehandelten Verhaltensnorm.
Und genauso geht es mit Menschen, die trotz dem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, der definiert, dass wir viel lieber alle gut und auf Augenhöhe miteinander auskommen würden, als in strikten Hierarchien zu leben, wie in einem autoritären System, viel lieber rassistisch, sexistisch, behindertenfeindlich etc etc. sein würden.
Die merken nämlich, dass der Teil der Gesellschaft, in dem sie schrankenlos willkommen sind, andere Rassisten, Sexisten, Behindertenfeinde oder Homophobe sind und sie in vielen anderen Bereichen nicht so richtig auf Begeisterung stoßen. Das kann dann natürlich sogar bis ins berufliche oder tief in den privaten Bereich reichen. Denn genau wie ein Chef festlegen kann, dass Angestellte im Kundenkontakt keine Gesichtspiercings tragen dürfen, kann er festlegen, dass er Sexisten für das Betriebsklima nicht vorteilhaft findet. Und der rassistische Großonkel, den bisher alle Oma zuliebe auf Familienfeiern ertragen haben, wird nach Omas Beerdigung dann auch einfach nicht mehr eingeladen. Oh.
Also nein, “political correctness” ist keine Zensur und war nie Zensur.
Es ist der verächtliche Begriff für Verhaltensnormen die sich durch einen demokratischen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess ergeben haben. Verhaltensnormen, die wir alles andere im gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Bereich einem beständigen Wandel unterliegen. Die man aber denkbar kurz zusammenfassen kann, zu: Sei kein Arschloch.
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