Hallo, “Dr. h.c.” … ich hoffe mal, das Profil des “Selfmade Sozialhilferentners” ist eine humoristische Performance, denn einen “Dr. h.c.” darf man nicht öffentlich tragen. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass er echt sein sollte.
Nun zur Frage.
- Die Prämisse der Frage ist natürlich ganz großer Kokolores
- Die korrektere Frage wäre: “Warum fällt es mir nicht auf, dass sich etwas ändert”
- Eine Frage wäre, was sollte sich denn konkret ändern und in welche Richtung?
- Tatsächlich ändert sich sehr viel und … genau das ist ja das Problem für einige hier.
Die Antwort auf Frage in Punkt 2. ist: Weil Menschen ein miserables Gedächtnis haben und sich schnell an neue Gegebenheiten gewöhnen und denken “so war es immer” auch wenn es definitiv nicht ‘immer’ so war.
Weil sie zudem kein Gefühl für kleine und graduelle Änderungen haben und deswegen denken, nur große Einschnitte sind echte Veränderungen.
Zumindest jene Menschen, die ihre Meinungen, Einstellungen und Haltungen nie reflektieren, sondern einfach nur übernehmen oder generell “dagegen” sind, weil das so schön bequem ist.
Also, hat sich denn wirklich nichts verändert?
- Ich bin in den 70ern geboren und damals durften Frauen ohne Einwilligung ihres Ehemannes noch keinen Beruf aufnehmen oder gar nur ein Konto eröffnen. Das hat sich glücklicherweise verändert.
- In den 80ern war der kalte Krieg noch auf dem Höhepunkt. Die Frage, ob es einmal einen Atomkrieg geben wird, war nicht gegeben. Man fragte sich nicht ob, sondern wann. Das hatte sich zwischendurch zum Besseren verändert.
- Ebenfalls in den 80ern war das Problem des sauren Regens und des Ozonlochs auf seinem Höhepunkt angekommen. Das Waldsterben wurde in vielen Regionen Deutschlands sichtbar. Die Luft in einigen Städten konnte man schneiden. Kinder erkrankten reihenweise an Pseudo-Krupp. Viele Gebäude waren Asbestverseucht. Die Industrie hatte nur wenige Auflagen, welche Abfälle sie wohin entsorgen darf. Der Rhein stank zum Himmel, Fische starben.
All das hat sich durch Gesetzgebung und Regulierung zum Besseren verändert. Zum Beispiel durch Einführung des KAT, dem Verbot von FCKW und Auflagen für die Industrie. - Auch in den 80ern erfuhren mit HIV infizierte und an AIDS erkrankte Menschen Ablehnung und Hass. Hilfe gab es dagegen kaum. Auch das hat sich zum Glück verändert.
- Bis in die 90er stand Homosexualität theoretisch unter Strafe. Vergewaltigung in der Ehe dagegen war erlaubt. Beides hat sich zum Glück verändert.
- Generell wurde die Gesellschaft offener und andere Lebensentwürfe wurden zunehmend akzeptiert. Das zeigte sich nicht zuletzt in der Zulassung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder darin, dass auch Männer inzwischen bezahlten Urlaub nach der Geburt eines Kindes nehmen können und es nicht mehr normal ist, dass Väter für die meiste Zeit des Aufwachsens ihrer Kinder einfach abwesend sind.
- Da es so lange dem Gutdünken der Männer überlassen war, ob ihre Frauen arbeiten dürfen, wurden irgendwann Erziehungszeiten auf die Rente anerkannt, um Altersarmut vor allem von Frauen, entgegen zu wirken.
- Gewalt in der Gesellschaft nimmt seit Dekaden immer weiter ab.
- Verkehrsunfälle haben lange Zeit abgenommen (mit einer leichten Zunahme, die vorwiegend auf Navigationssysteme zurückzuführen ist)
Es hat sich also einiges verändert und vieles durchaus positiv.
Positive Veränderung — aber nicht für alle im gleichen Maße
Wobei vielleicht auffallen dürfte, dass die positiven Veränderungen in erster Linie nicht die Personen betreffen, die männlich sind, im mittleren Alter, die Autofahrer sind und dem Mittelstand angehören.
Das ist aber kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die komplette Politik immer schon auf diese Gruppe hin ausgerichtet war und diese Gruppe bereits seit Dekaden in einem idealen Zustand existierte.
Es musste also in erster Linie für die Gruppen nachreguliert werden, die an diesem privilegierten Zustand der männlichen Mehrheitsgesellschaft bisher nicht oder nicht so stark beteiligt waren. Daher sind Veränderungen dort am Leichtesten nachzuvollziehen.
Allerdings:
Sozialabbau und die Ursachen
- Man konnte auch einen deutlichen und zunehmenden Sozialabbau beobachten.
Aber genau dieser ist ein Zeichen, dass sich durch Wählen etwas ändert. Man kann das hier auf Quora gut verfolgen. Die gleichen Personen, die lauthals den Sozialabbau beklagen, drehen sich um und reden von ‘arbeitsscheuen Bürgergeldempfängern’ und wünschen sich mehr und härtere Maßnahmen gegen sie (die Tatsache ignorierend, dass der Missbrauch von Sozialleistungen lediglich einen winzigen Bruchteil der berechtigten Empfänger ausmacht und die Mehrheit der Empfänger sogenannte ‘Aufstocker’ sind, deren Einkommen nicht zum Leben ausreicht.)
Sie geben daher mit jeder Wahl der Politik die Möglichkeit — und den Auftrag(!) — gegen diesen imaginären Missbrauch vorzugehen … durch härtere Regeln und höhere Zugangshürden, also durch Sozialabbau. Um sich dann zu wundern, wo denn dieser ganze Sozialabbau herkommt.
Man kann nicht, als eine grundsätzliche Regel, ständig gerade den Menschen das Wenige neiden, dass sie haben oder in permanenter Panik leben, dass jemand etwas bekommen könnte, dass ihm nicht zusteht — und danach handeln und wählen — wenn man ein grundlegend soziales System will.
Auch findet sich immer wieder eine hohe Zustimmung, Vermögen und Erbschaften nicht zu besteuern, von Menschen, die weder Vermögen besitzen noch eine größere Erbschaft erwarten zu haben.
Ich nenne das gerne, analog zum von Thorstein Veblen formulierten “Geltungskonsum”, eine “Geltungswahl”. Menschen wählen danach, was für die Schicht am besten wäre, der sie gerne angehören würden, und nicht was für die Schicht gut wäre, der sie tatsächlich angehören.
Und hinterher hört man, auch und gerade hier auf Quora, das Geheule, dass ‘die Eliten’ (nebenbei historisch ein Begriff aus dem Fundus des Antisemitismus) so viel Einfluss hätten und sie selbst so wenig.
So wunderlich, wenn man mit jeder Wahl dafür sorgt, dass Reiche anteilig weniger Steuerlast tragen, als jemand der 8 Stunden täglich 5–6 Tage die Woche am Band malochen geht und auch noch jedesmal so wählt, dass Parteien regieren, die wenig Interesse daran haben, die Arbeit von Lobbies wirksam zu regulieren. Und wenig verwunderlich, dass die Reichen ihr immer weiter wachsendes Vermögen nutzten, um sicherzustellen, dass es immer weiter wächst.
Unter anderem, in dem sie populistische Parteien stützen, die traditionell gegen mehr Regulierung oder höhere Steuern sind und in entsprechende Propaganda investieren.
Ambivalente Veränderungen
- Frauen haben Rechte gegenüber ihren Ehepartnern verloren
Während Vergewaltigung in der Ehe heute strafbar ist und auch das Scheidungsrecht liberalisiert wurde, haben Frauen heute das Recht verloren, nach einer Scheidung auf einen längeren Zeitraum hinweg durch ihre Ex-Partner alimentiert zu werden. Das war natürlich ein Preis der zu zahlen ist, wenn man generell mehr Rechte haben möchte, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Dann kann auch von einem verlangt werden, diesen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen, wenn man eine Partnerschaft auflösen möchte. Auch dann, wenn vorher das klassische Hausfrauenmodell gelebt wurde.
Der Blick über den Tellerrand
Dass Wahlen sehr wohl etwas verändern, kann man gut sehen, wenn man über den Tellerrand hinausblickt, nämlich in andere Länder.
So haben die Briten durch ihre Wahl den Ausstieg aus dem größten Bündnis Europas beschlossen und durchgeführt. Die Entscheidung stürzte das Land in ein wirtschaftliches und politisches Chaos. Zeitweise gelang es nicht einmal, landesweit die Supermarktregale zu füllen, weil durch die, mit der heißen Nadel gestrickten, Veränderungen nicht mehr genug Personal im Transportbereich zur Verfügung stand.
Zeitweise flammten deswegen sogar die Konflikte in Nordirland neu auf.
In den USA haben Wahlen auch etwas verändert, nämlich sind, durch die neue Besetzung des Supreme Courts diverse wichtige Gesetze gefallen und einzelne Staaten haben ihre Gesetze neu geschrieben, die z.B. Abtreibungen sogar nach einer Vergewaltigung verbieten und die medizinische Eingriffe, wie eine Ausschabung, sogar dann verhindern, wenn das Kind im Mutterleib bereits gestorben ist, weil das technisch gesehen immer noch als Abtreibung gilt und die beteiligten Mediziner dann strafrechtlich verfolgt werden könnten.
Das bewirkt konkret, dass jüngst ein zehnjähriges Kind ein Baby nach einer Vergewaltigung austragen musste und Frauen unfruchtbar werden, weil medizinisch notwendige Eingriffe nach einer Fehlgeburt unterbleiben oder gar an den Folgen sterben. Obwohl sie das nach Stand unserer medizinischen Entwicklung nicht müssten.
Ganz schlimm sieht es auch für transsexuelle Menschen aus, für die in verschiedenen Staaten die medizinische Unterstützung nun verweigert wird.
Einige Staaten überlegen auch, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wieder zu delegitimieren.
Das sind dann — erneut — Veränderungen, die nur wenige betreffen (wie trans Menschen oder schwangere Frauen) und weiße, mittelalte Männer der Mittelschicht merken von Veränderungen kaum etwas. Für Minderheiten sind sie aber lebensverändernd und manchmal sogar lebensbeendend.
Ich nenne sowas durchaus: da hat sich durch Wahlen etwas verändert.
Nur halt nicht zum Guten.
Veränderungen sind langsam
Für die meisten politischen Veränderungen muss man, schlicht und ergreifend längere Zyklen ansehen und nicht nur auf die Tagespolitik achten. Oder nicht nur Schlagzeilen lesen.
Politik ist nämlich das Bohren dicker Bretter. Keine Partei kann in einer Demokratie einfach so durchregieren. Je nachdem müssen Mehrheiten gefunden werden und sogar auch mit der parlamentarischen Opposition ausgehandelt werden. Denn auch die ist im Bundestag nicht nur anwesend, sondern hat Stimmrechte.
Wer sich diese längeren Zyklen ansieht und nicht nur auf Veränderungen für einen persönlich achtet, der wird Veränderungen sehen.
Was soll sich denn verändern?
Die viel wichtigere Nachfrage bei solchen populistisch anschlussfähigen Fragen, wäre, was genau sich denn verändern soll. Und da kommen wir dann schnell dahin, dass die Leute zwar keine Steuern zahlen wollen, die Polizei aber bei jedem Anruf in 0,5 Minuten da sein soll, dabei immer freundlich lächeln soll, aber natürlich gleichzeitig auch den Mann mit der dunklen Haut gnadenlos verprügeln soll, weil er jemanden auf der Straße schräg angesehen hat.
Es soll nichts für Umweltschutz getan werden, aber die Flüsse und Seen sollen bitte sauber sein und die Luft rein. Auch soll Industrie bitte nicht in andere Länder abwandern, nicht mal mit einzelnen Werken, aber dort arbeiten möchte auch niemand.
Der Spargel darf nicht teurer werden, aber es sollen keine Saisonarbeiter aus Tschechien kommen, denn das sind ja Fremde.
Überhaupt soll Milch und Honig fließen, es soll einen starken Mann geben, der endlich wieder das Ruder in die Hand nimmt, aber man möchte sich auch nicht an Regeln halten müssen.
Oder, wie es eine Gelbweste mal so prägnant formulierte: Reisefreiheit, aber geschlossene Grenzen!!!EinsElf.
Oh nein, es verändert sich etwas
Nun ist es ja so, dass sich derzeit durchaus etwas verändert. Wir haben nach 16 Jahren Stillstand in einer Merkel-geführten und CDU-dominierten Regierung eine Koalitionsregierung, die zumindest ansatzweise bereit war, lange aufgeschobene und notwendige Veränderungen anzugehen. Viele davon werden leider durch den kleinsten Partner der Koalition, der FDP, torpediert, die ein rückwärtsgerichtetes und nicht sehr weitblickendes Wirtschaftsmodell verfolgt — obwohl von vornherein aus den vergangenen Regierungsbeteiligungen der FDP klar war, dass sie eine Partei ist, die vor allem Klientelpolitik betreibt.
Aber selbst diese mikrokleinen Veränderungen stören vorwiegend die männliche, mittelalte Mittelschicht, die sich an den Stillstand unter Merkel gewöhnt hatte und jede Veränderung nun, egal wie nötig, als Affront empfindet.
In deren Selbsterzählung hat sich durch Wahlen natürlich rein deswegen nichts verändert, weil die von ihnen als negativ empfunden wordenen Anteile der Merkelregierung in dieser Regierung noch deutlicher zu Tage treten. Im Bereich Umweltschutz beispielsweise.
Fazit
Wer mit Vorstellungen an die Frage geht, ob sich durch Wahlen etwas verändert, aber eigentlich ein anderes System erwartet und erwartet, dass z.B. der Rechtsstaat ausgehebelt wird, um endlich wieder extrem gegen Minderheiten vorgehen zu können, wer also faktisch am Liebsten der Demokratie eine Absage erteilen möchte, der wird sich schwer damit tun, reale Veränderungen zu entdecken.
Auch, jene, denen es objektiv gesehen bereits sehr gut geht, die sich aber darüber beschweren möchten, dass es anderen ebenso gut gehen soll, werden sich, ich wiederhole mich, schwertun.
Für alle anderen gibt es sehr wohl und sehr deutliche Veränderungen und sehr viele davon waren sowohl nötig, wie positiv.
- Zur Original-Antwort