Ich bitte den teilweise etwas ruppigen Ton zu entschuldigen. Dieser entstand, weil die Frage von einer bekannten Verschwörungsmystikerin auf Quora gestellt wurde, die derartige Fragen stellt, um Unsicherheit zu schüren. Die aber auf alles andere aus ist, als eine ehrliche Antwort. Die hat sie dennoch bekommen.
Was diese Frage tut, ist wunderbar zu illustrieren, wie schlichtes Denken mit den Eingeweiden, statt mit dem Kopf funktioniert: Es gibt nur Schwarz und Weiß. Entweder “Mainstream-Medien” sind immer vertrauenswürdig, oder sie sind es immer nicht.
Das ist ein unterkomplexer, denkfauler Umgang mit Medien und Informationen.
Kurz: wer diese Frage mit Ja oder Nein beantwortet, oder mit oberflächlichen Phrasen, macht seinen Job als mündiger, wahlberechtigter Bürger nicht.
Um genauer zu sein, es handelt sich um das Reenactment kritischen Denkens. Menschen verkleiden sich mit Aussagen wie “das ist alles Propaganda” als kritisch denkende Personen, ebenso wie sich Menschen in Südstaatenuniformen verkleiden und die Schlacht von Gettysburg nachspielen.
Nur, dass diese wissen, dass sie nicht wirklich Soldaten sind und anschließend alle wieder vom Schlachtfeld aufstehen und heimgehen, während sich die Reenacter kritischen Denkens selbst einreden, echt voll informiert zu sein.
Während sie eigentlich nur einem einfachen Bewertungschema folgen: “Immer das Gegenteil von dem als wahr annehmen, das die offizielle Linie zu sein scheint.”
“Das ist alles Propaganda” spricht von der Mühe frei, sich tatsächlich mit den Inhalten oder dem Medium und dessen Ausrichtung auseinandersetzen zu müssen. Es ist ja ohnehin alles Propaganda. Man wird überall nur manipuliert. Kann man ja nichts gegen machen, außer zu glauben, was man ohnehin gerne glauben will.
Damit könnten sie sich im Prinzip direkt mit einem Neonschild mit der Aufschrift “Ich bin leicht manipulierbar” auf die Straße stellen.
Zu echter Medienkompetenz gehört ein bisschen mehr. Vor allem gehört dazu (Denk-)Arbeit.
Dazu solllte man sich erst mal überlegen, was die “Mainstream-Medien” eigentlich sind.
Ist das Neue Deutschland ein “Mainstream-Medium”? Die TAZ? Die ARD? Die FAZ? Die BILD? Alle?
Sind alle Medien, die mit professionellen Journalisten und Redaktionen arbeiten Mainstream-Medien? Gehören die alle zu einem einzigen großen Propaganda-Ministerium? Ruft morgens Merkel dort an und gibt die Losung für den jeweiligen Tag durch?
Was mit “Mainstream-Medien” im Allgemeinen gemeint wird, sind Medien, die tatsächlich recherchieren und damit nicht so berichten, wie es dem Bauchgefühl der “alles Propaganda”-Sager entspricht.
Medien also, die tatsächlich eine Meinungspluralität abbilden und nicht auf jedes Zucken des protoreptilische Gehirns anspringen. Oder direkter: Die nicht niedere Instinkte bedienen.
Für “Mainstream-Medien”-Sager sind “Mainstream-Medien” immer die Medien, in denen Artikel erscheinen dürfen, die ihnen nicht in den Kram passen.
Entsprechend ist der Begriff “Mainstream-Medien” selbst ein Propagandabegriff. Weil er versucht die Meinungspluralität, die wir im deutschen Mediensystem haben zu negieren und das ganze Spektrum, von links außen — Neues Deutschland o.ä. — bis ganz rechts außen — Cicero o.ä. — in einen Topf zu werfen.
2015 wurde von “Mainstream-Medien” geredet, weil nicht jede Zeitung den Untergang der westlichen Welt und die sofortige Islamisierung Deutschlands an den Himmel malte.
Ignoriert wurde, dass es durchaus auch große Medien gab, die durchaus AfD-Rhetorik von den ‘geöffneten Grenzen’ und dem ‘Rechtsbruch’ aufgriffen.
2018 wurde von Mainstream-Medien geredet, weil sich die seriösen Medien nicht auf den Rücken warfen und die Gelbwestenbewegung als die Retter der Zeit darstellten.
2019 wurde von Mainstream-Medien geredet, weil im Zuge von Fridays for Future das Thema menschengemachter Klimawandel nicht ins Reich der Legenden verwiesen wurde, sondern jedes seriöse Medium die wissenschaftlichen Fakten anerkannte.
Ignoriert wurde, dass es durchaus auch “Mainstream-Medien” gab, die hart an der Grenze zur Klimawandelleugnung schrammten oder sogar schon über der Grenze drüber waren. Ignoriert wurde auch, dass es natürlich eine Bandbreite an Ansichten gab wie mit der Realität des Klimawandels denn nun genau umzugehen sei, oder wie dringend das wäre.
2020 wurde von Mainstream-Medien geredet, weil kein seriöses Medium angezweifelt hat, dass es eine Pandemie gibt.
Ignoriert wurde auch diesmal, dass es durchaus eine Meinungspluralität gab und gibt, wie genau mit der pandemischen Situation umgegangen werden sollte und ob die Maßnahmen als sinnvoll oder übertrieben angesehen wurden.
Aber das ging den “Mainstream-Medien”-Sagern nicht weit genug. Nur Medien, die die Existenz der Pandemie ganz leugneten, oder die Wirksamkeit der Maßnahmen oder die das Vorgehen in den Kontext einer angeblichen Diktatur stellten — oder alles zusammen — waren vertrauenswürdige Medien. Also Medien, die schlichtweg die Realität leugneten.
Generell ist auch immer dann von “Mainstream-Medien” die Rede, wenn diese Werte verteidigen, die — indeed — Mainstream-Werte sein sollten. Wie Demokratie, Menschenrechte, Anti-Rassismus, Anti-Faschismus, Anti-Sexismus, Anti-Ableismus, Schutz von Minderheiten, Teilhabe an der Gesellschaft unabhängig von Geschlecht, sexueller Ausrichtung, Stand, Religion oder Herkunft, etc. Wenn also das verteidigt wird, was hart erarbeitete Errungenschaften unserer Gesellschaft sind.
Was auch schon so einen kleinen Hinweis darauf gibt, dass es “Mainstream-Medien”-Sagern nicht um Meinungspluralität geht, und nicht um unsere westlichen Werte, sondern darum das genaue Gegenteil zu etablieren. Einen verengten Meinungkorridor, in dem erst unsere Werte in Frage gestellt werden um sie dann abzubauen oder zu zerschlagen.
Was unsere Medien nicht sind, was Medien nicht sein können, ist:
- neutral
- unfehlbar
- vollkommen unabhängig
- vollkommen ausgewogen
Was seriöse Medien tun:
- umfangreich und sorgfältig recherchieren
- sie versuchen Fehler zu vermeiden
- ausgebildete Journalisten oder gut qualifizierte Quereinsteiger anstellen
- anhand von journalistischen Standards arbeiten
- sich am Pressekodex orientieren
- Rechenschaft über die eigene Arbeit ablegen
- legen finanzielle Abhängigkeiten offen
- gehen idealerweise auch transparent mit Fehlern um
Seriöse Medien haben im Allgemeinen auch keine direkte Agenda. Abgesehen von einigen Ausreißern, die in den letzten Jahren zunehmend in verschwörungsmythische und rechts-autoritäre Fahrwasser abrutschen.
Die “alternativen Medien” dagegen:
- bedienen Bedürfnisse einer definierten Gruppe
- recherchieren nicht, bzw. verwerten nur die Rechercheergebnisse der “Mainstream-Medien” und setzen ihre ‘Recherche’ in einen anderen Kontext
- die Texte stammen zumeist von Laien ohne Kenntnisse in Recherchetechniken und Quellenbewertung
- es besteht meist keine Trennung zwischen Finanzen (Verlag) und Inhalt (Redaktion)
- haben eine politische, gesellschaftliche oder religiöse Agenda
- man weiß, bevor man einen Artikel liest, im Prinzip bereits, was drin steht und welche Schlüsse die Autoren ziehen werden
- legen finanzielle Abhängigkeiten selten offen
Was “Mainstream-Medien”-Sager ironischerweise als unglaubwürdige Medien bezeichnen, sind, im Falle der Öffentlich-Rechtlichen Sender, riesige Organisationen.
Alleine die ARD setzt sich noch aus 14 Landesmedienanstalten zusammen mit jeweils eigener Leitung.
Im Verlauf der Pandemie hat der MDR beispielsweise Bhakdi eine Plattform gegeben und der NDR der Aktion #allesdichtmachen, ebenso wie den Podcast “Coronavirus Update”.
Die ersten beiden Beispiele waren, meiner Ansicht nach, furchtbare Fehlentscheidungen, mit denen sich die Verantwortlichen keinen Gefallen getan haben, weil hier im ersten Fall sachlich falsche Informationen verbreitet wurden und im zweiten Fall einer verschwörungsmystischen Gruppe Schauspieler eine Plattform geboten wurde.
Das ausgerechnet öffentlich-rechtliche Medien nun vorgeworfen wird, die ‘Regierungsagenda’ und ‘Propaganda’ zu verbreiten, ist nicht wenig ironisch. Bedenkt man, dass es immer wieder Vorstöße gab, die öffentlich-rechtlichen Medien entweder abzuschaffen oder besser politisch zu kontrollieren.
So war die Gründung des ZDF ein Versuch von Adenauer, der “linken” ARD etwas entgegenzusetzen und dass Kohl den Weg für die privaten TV-Programme bereitete, war ebenfalls ein Versuch, den zu unkontrollierbaren öffentlich-rechtlichen Medien etwas entgegenzusetzen.
So ist eine Agenda bei den Privatsender eher zu erkennen, als bei den Öffentlich-Rechtlichen, z.B. dediziert christlich bei SAT 1.
Überall auf der Welt wo öffentlich finanzierte Radio- und Fernsehprogramme angegriffen werden, steht nahezu immer eine autoritäre oder faschistische Agenda dahinter.
Denn dass diese Art Medien schlecht kontrollierbar sind, und ihren Bildungsauftrag ernst nehmen, ist legendär und Möchtegerne-Diktatoren auch gut bekannt. So versuchte Trump den öffentlichen Sender PBS einzuschränken (hierzulande vor allem durch die Sesamstraße bekannt) und die Tories versuchen seit Jahren die BBC abzubauen, trotz deren international guten Ruf.
Auch in Deutschland kommen Angriffe vorwiegend aus den rechten Teilen der CDU, der CSU, manchmal der FDP, aber hauptsächlich doch der AfD.
Daher ausgerechnet öffentlich-rechtliche Sender als “Regierungssender” zu betiteln ist historisch ignorant, denkfaul und man weiß eigentlich schon, wo genau Personen, die solche Behauptungen aufstellen, politisch zu verorten sind.
Und ja, das macht die Beteiligungen der Politik in den Rundfunkräten oder Personalien wie die Tochter Schäubles als neue Programmdirektorin der ARD nicht weniger problematisch. Das sind Entwicklungen, die unbedingt im Auge behalten werden müssen.
Für den Moment gilt aber: eine direkte Einflussnahme der Politik in die redaktionelle Arbeit der öffentlich-rechtlichen Sender findet nicht statt.
Wenn man sich die deutsche Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft ansieht, wird das Gerede von den Mainstream-Medien noch absurder.
Zum einen sind diese Medien privatwirtschaftlich, können also ohnehin nicht direkt von der Politik kontrolliert werden.
Was bei fast allen deutschen Pressemedien gegeben ist: es gibt eine Trennung zwischen Verlag und Redaktion. Das bedeutet, die wirtschaftliche Seite nimmt _keinen_ Einfluß auf die redaktionelle, das heißt inhaltliche Arbeit.
Wenn es doch mal passiert, ist es ein großer Tabubruch. Wie man daran erkennt, dass die Ibben-Mediengruppe gerade eine komplette Gruppe investigativer Journalisten verloren hat. Hier griff der Verleger Ibben in die redaktionelle Arbeit von Buzzfeed ein und untersagte die Veröffentlichung eines Artikels über die sexuellen Übergriffe des BILD-Chefs Julian Reichelt.
Einige Lokalzeitungen gehören Parteien, was definitiv ein Problem ist. Aber auch hier besteht im Allgemeinen die Trennung zwischen Verlag und Redaktion.
Wo diese Trennung aller Wahrscheinlichkeit nach aufgeweicht wurde, ist bei der Berliner Zeitung. Hier litt seit dem Kauf durch ein Unternehmerehepaar die journalistische Qualität spürbar und es erschienen auch Artikel, die geschäftliche Verbindungen des Paares in ein positives Licht setzen.
Sehr oft muss natürlich nicht direkt vom Verlag in die Redaktion eingegriffen werden, indem man den Posten des Chefreakteurs entsprechend besetzt. wie zum Beispiel bei der BILD oder der WELT.
Der Springer-Verlag gehört ebenfalls zu den Medienhäusern, die sich nicht auf die Rolle als 4. Macht beschränken wollen, also nicht nur Politik hinterfragen und ein Korrektiv bieten wollen. Springer versucht sehr deutlich politische Realitäten zu schaffen. Und dafür geht man im Verlag mit der Wahrheit maximal flexibel um. Dennoch gelten Medien des Verlags bei “Mainstream-Medien”-Sagern sehr oft als zuverlässig(er) als andere Medien.
Jedes andere Medienhaus hat eine politische und gesellschaftliche Ausrichtung. Was nicht das gleiche ist, wie eine politische Agenda.
Und es ist wichtig, diese politische Ausrichtung zu kennen und bei der Bewertung von Veröffentlichungen einfließen zu lassen. Und zwar nicht auf die faule, tumbe “Medium X immer gut, Medium Y immer schlecht”-Weise.
So kann man z.B. das Neue Deutschland links verorten, die TAZ links-liberal, die Süddeutsche ein bisschen mehr mittig links-liberal, den Tagesspiegel links-mitte, die FAZ konservativ-liberal, die WELT und BILD rechts-konservativ mit starkem Drall zu rechts-reaktionär.
Das nun all diese Medien, aus einem sehr breiten politischen und weltanschaulichem Spektrum, die privatwirtschaftlich finanziert sind, alle geschlossen Regierungspropaganda verbreiten sollen, ist jedenfalls eine … interessante … Ansicht.
Tatsächliche Inhalte, die die gesellschaftliche Definition (nicht die Historiker-Definition) von Propaganda treffen, trifft man um so häufiger an, je weiter an die Ränder des politischen Spektrums sich die Ausrichtung eines Mediums verschiebt. Je häufiger Inhalte in einem Medium auftauchen, die der Definition von Propaganda entsprechen, um so weniger Sinn macht es das Medium als Informationsquelle zu konsumieren.
Ich halte mich persönlich z.B. als schon recht links, lese aber nur alle Jubeljahre mal einen Artikel im Neuen Deutschland denn mir ist der Drall ein bisschen zu dominant. Wenn man nur in seinen Ansichten bestätigt werden will geht das. Nicht aber, wenn man sich informieren will.
Und erneut, wenn man dort Beiträge findet, die der Definition von Propaganda entsprechen, heißt es nicht, dass es “Regierungspropaganda” ist. Sondern viel eher, dass sich bei ideologisch stärker beeinflussten Medien auch zu der jeweiligen Ausrichtung passende Propaganda wiederfindet.
Exhibit A:
Anyway. Wer halbwegs Interesse daran hat, sich persönlich einen Gefallen zu tun und sich tatsächlich inhaltlich mit Medien auseinanderzusetzen, statt tumb überall Manipulation zu vermuten, tut gut daran sich nicht nur mit der politischen Ausrichtung von Medien zu beschäftigen, sondern auch mit dem Begriff “Nachrichtenwert”.
Wenn man verstanden hat, was hinter dem Nachrichtenwert steckt, versteht man deutlich besser, warum über was berichtet wird und über was nicht.
Es gibt eine ganze Menge, was man an deutschen Medien kritisieren kann. Das tumbe “alles ist sowieso Propaganda” aber nicht.
Für alle, die darüber hinaus kommen wollen, habe ich da mal was vorbereitet:
Talk “Informationen bewerten” im Haecksen-Stream @ rC3 – Feder & Herd
tl;dr:
Während man bei den “Mainstream-Medien” immer abwägen muss, welche Ausrichtung das konkrete Medium hat und wer aus welcher Position schreibt, bieten die angeblich ‘ausgewogenen’ alternativen Medien weder Ausgewogenheit noch Unabhängigkeit. Sie sind der Öffentlichkeit nicht zur Rechenschaft verpflichtet, bedienen vordefinierte Narrative und niedere Instinkte und sind daher nahezu ausschließlich Quellen der Desinformation.
Wer von “Mainstream-Medien” und von “das ist alles manipuliert” oder “das ist alles Propaganda” redet, ist genau das Gegenteil von kritisch, sondern erklärt seinen intellektuellen Bankrott.