Sie bedeutet in erster Linie, dass die Person überhaupt keine Ahnung hat, von was sie redet.
In der Durchschnittsbevölkerung ist das Immunsystem etwas, das gut ist, wenn man selten an Erkältungserkrankungen leidet und schlecht, wenn man sich häufig erkältet.
Das man aber auch trainieren muss, in dem man nicht jeder Infektion ausweicht.
Das ist eine unterkomplexe Vorstellung des Immunsystems, die sich auf über die Luft übertragene Pathogene und eine ‘starke’ Körperbarriere beschränkt. Also den Teil des Immunsystems der verhindert, dass Pathogene Haut oder Schleimhäute durchdringen können.
Ich habe hier in einem Kommentar sogar schon die Behauptung gelesen, bei einem guten Immunsystem würde man dann die Viren und Bakterien einfach runterschlucken können, weil sie keine Möglichkeit finden, an den Schleimzellen des Mundes und der Nase anzudocken.
Das es Viren gibt, die sich evolutionär so entwickelt haben, dass sie genau die Schutzmechanismen der Körperbarriere für ihre eigene Vervielfältigung nutzen … geschenkt.
Auch glauben diese Leute nicht gegen Masern oder Windpocken geschützt zu sein — obwohl sie sich gegen eigentlich jedes andere respiratorische Virus immun empfinden, weil sie nicht realisieren, dass Masern und Windpocken (Pocken auch, aber die gibt’s zum Glück ja nicht mehr) Viren sind, die sich respiratorisch verbreiten. Weil die Auswirkungen die wir sehen nicht respiratorisch sind.
Wir gesagt: Wir haben es mit einer unterkomplexen Vorstellung des Immunsystems — und von Erkrankungen zu tun.
Was diese Leute aber komplett ignorieren, ist ein Bestandteil des Immunsystems, über den wir auch in den letzten zwei Jahren zu selten gesprochen haben. Obwohl es wichtig wäre. Das behavioral immune system oder auch das Verhaltensimmunsystem.
Damit ist unser Verhalten in Bezug auf Pathogene gemeint, bzw. die (vererbte) Fähigkeit sie zu erkennen und angemessen zu handeln. Aber auch psychologische Prozesse in Angesicht einer Infektionsgefahr.
Beispielsweise: Wir riechen verdorbenen Fisch. Dieser Geruch löst in uns, ohne, dass wir etwas dazu tun, Ekel aus. Wir würden den Fisch nicht essen.
Auch Lebensmittelvergiftung ist, ebenso wie eine Erkältung, eine Infektion. Das Verhaltensimmunsystem verhindert im Idealfall, dass wir uns überhaupt erst infizieren.
Auch sichtbare Infektionen bei anderen Personen, wie zum Beispiel bei Lepra, lösen Ekel aus und lassen uns auf sichere Distanz gehen[fn]An diesem Punkt haben wir leider auch eine dunklere Note des Verhaltensimmunsystems, denn wir empfinden auch vieles, das wir als fremd empfinden, als gefährlich und meiden es.[/fn].
Allerdings gehört auch erlerntes Verhalten zum Verhaltensimmunsystem. Zum Beispiel regelmässiges Händewaschen, weil wir die meisten Pathogene zwar nicht sehen, aber heutzutage gelernt haben, dass viele davon über die Hände übertragen werden.
Den eigenen Kühlschrank sauber zu machen, gehört zum Verhaltensimmunsystem.
Lebensmittel die schimmelig sind, wegzuwerfen -> Verhaltensimmunsystem.
Eine dreckige Wohnung als unangenehm zu empfinden -> Verhaltensimmunsystem.
Auch sich alle empfohlenen Impfungen zu holen, ist Teil des Verhaltensimmunsystems, mit dem wir uns selbst vor Krankheiten schützen.
Wenn jemand also sagt “Ich habe ein gutes Immunsystem, ich brauche die Impfung nicht” sagt er in Wirklichkeit: “Ich glaube eine intakte Körperbarriere zu haben, aber da ich mich nicht dem Pathogen angemessen verhalte, setze ich mich einer irrationalen Infektionsgefahr aus … und alle anderen auch.”