Es ist maximal ein Anzeichen dafür, dass sich ein Land hochentwickelt _sieht_.
Wir setzten “Moderne” und “Fortschritt” mit größtmöglicher Individualität und Selbstentfaltung gleich. Oder anders formuliert: Wir sehen die Entwicklung, die unsere Gesellschaft genommen hat unter einem positiven Licht und empfinden sie als die richtige, die beste Entwicklung.
Manche versteigen sich sogar in Aussagen hinein, dass die Entwicklung zu unserer Gesellschaft hin unausweichlich war, weil es ‘logisch’ sei, möglichst frei und gleichberechtigt zu leben.
All diese Deutungsweisen sind problematisch.
Zum einen, weil wir damit Gesellschaften werten, die einen anderen Weg genommen haben, als unsere und zum anderen, weil wir damit unseren Weg quasi als Endziel definieren und uns einreden, wir hätten alles richtig gemacht.
Die Wahrheit könnte nicht ferner sein.
Weder sind wir ‘automatisch’ dort angekommen, wo wir sind, sondern das war eine Folge der unterschiedlichsten Befreiungs- und Gleichberechtigungsbewegungen, gegen die oft aus dem Rest der Gesellschaft sehr brutal losgeschlagen wurde.
Zum Anderen sind diese Errungenschaften nicht in Stein gemeisselt, sondern in Wirklichkeit extrem wackelig. Zu spüren war das gerade letzte Woche sehr deutlich. Während in Deutschland der Paragraph 219a abgeschafft wurde — was die Meisten als Fortschritt definieren würden, weil es zu unserer Vorstellung von Modernität passt (Individuelle Entscheidungsfreiheit) — wurde in den USA “Roe vs Wade” aufgehoben. Ein Meilenstein der Rechtsprechung der USA, der bundesweit (also staatenübergreifend) das Recht auf Abtreibung sicherte. Nun kann jeder Bundesstaat selbst entscheiden, ob Abtreibungen auf seinem Boden erlaubt oder verboten sind und unter welchen Bedingungen.
Also die Nation, die einen noch stärkeren Wert auf freie Entfaltung legt und den Einfluss des Staates in fast jedem Lebensbereich zurückdrängen will (wie z.b, dass der Staat keine Fahrradwege schaffen soll, weil Staat), hat nun die Basis dafür geschaffen, dass der Staat wieder in das Leben und die Entscheidungsfreiheit von Frauen eingreifen darf.
Eine liberale Gesetzgebung wurde innerhalb recht kurzer Zeit gekippt, die Situation für Frauen in den USA ist nun deutlich unfreier als vorher.
In vielen Situationen wenig Kleidung tragen zu können, gehört ebenfalls zu dem Maß an Individualismus, den wir als modern empfinden.
Aber es ist nur eine Facette und nicht mal die Wichtigste.
Wenn wir tatsächlich dem Ideal der individuellen Freiheit auch nur nahe gekommen wären, würde es bedeuten, dass wir kaum Kleidungstabus kennen.
Nun, ich fordere dich heraus, wenn Du ein Mann bist, morgen mit einem Rock oder Kleid öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Wenn Du eine Frau bist trage eine Burka, oder die Art Kopftuch, die noch in den 70ern von deutschen Landfrauen getragen wurde. Alternativ: damit habe ich selbst … interessante … Erfahrungen gemacht: Haare leuchtend violett färben und damit ein paar Wochen rumlaufen.
Es wird zu Anfeindungen kommen. Im Falle mancher Kleidungsstücke oder religiöser Symbole sogar zu beruflichen Konsequenzen.
Jedenfalls machen Bezeichnungen und Selbstzuschreibungen wie “modern” oder “weit entwickelt” bzw. “hochentwickelt” nur dann Sinn, wenn man sie in Konkurrenz setzt. Wenn man selbst “modern” ist, muss es ja auch immer Gesellschaften geben (oder gegeben haben) die nicht modern sind (oder waren) und die nicht entwickelt sind oder waren.
Und damit fischen wir schon mal in den ganz trüben Randgewässern des Faschismus. “Wir sind besser als die.”
Das ist relativ harmlos, wenn wir uns mit uns selbst vergleichen. Z.B. soll die Aussage “mittelalterlich” im Grunde ausdrücken, dass WIR nicht mehr so rückständig sind wie DIE damals. Nicht so abergläubisch, nicht so gewalttätig, nicht so primitiv.
Lass mich die Realität in einem Wort zusammenfassen: Nein.
Wir nutzen die Geschichte als Projektionsfläche und das schadet auf den ersten Blick erst mal vor allem den Nerven von Historikern, die sich die Haare raufen und “das war aber alles ganz anders” murmeln.
Dennoch ist es ein Problem, wenn wir uns über den Zustand unserer Gesellschaft in die Tasche lügen. “Im Mittelalter waren die Leute alle abergläubisch.”
Well. Ich empfehle einen Streifzug durch Quora. Was einem an einem Tag alles an Aberglauben unterkommt, von Menschen die unbedingt an die Phantomzeit glauben wollen, andere möchten unbedingt daran glauben, dass die Pyramiden von Außerirdischen erbaut wurden und wieder andere (oder oft auch die Gleichen) glauben, dass die Pandemie eine große Verschwörung der Regierung ist.
Vergleichsweise im Mittelalter: Da haben sie _nicht_ daran geglaubt, dass die Erde flach sei. Nein, auch das ist eine Legende, die nach dem Mittelalter entstanden ist, um die Menschen des Mittelalters ungebildet aussehen zu lassen. Aber sie. haben auch daran geglaubt, dass man wegen dem bisschen Pest doch wirklich nicht die Stadttore schließen und den Handel unterbrechen kann und das wäre …
Kurz: Wir sind effektiv wirklich die gleichen vernagelten Gestalten wie damals mit dem gleichen grenzvollpfostigen Verhalten in Extremsituationen, dem selben Hang zur Irrationalität und Gewalt.
Das 20. Jahrhundert war phasenweise weit, _weit_ gewalttätiger als das Mittelalter.
Noch problematischer wird es aber, wenn wir eben nicht vergangene Zeiten als Vergleich für unser “modernste, entwickelste, beste, freieste Gesellschaft aller Zeiten, Einself”-Narrativ nehmen, sondern andere Kulturen die mit uns die Erde bevölkern.
Dann wird das nämlich schnell hässlich und zur Basis von gruppenbezogenen Menschenhass. Der seit Jahren massiv zunimmt, während sich die (“moderne”, “entwickelte”) gebildete bürgerliche Mitte zunehmend radikalisiert.
Von daher: Nein. Nacktheit, sexuelle Freiheit und sexuelle Beziehungen ohne Ehe sind kein Anzeichen für die Modernität unserer Gesellschaft oder den Grad der Entwicklung. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass wir in diesen wenigen Punkten einem von vielen geteilten Idealbild der Gesellschaft nahe gekommen sind.
In anderen Punkten könnten wir aber nicht weiter von diesem Ideal entfernt sein.
Ebenso gibt es keine ‘modernen’ und keine ‘rückständigen’ Kulturen auf dieser Welt. Sondern es gibt Kulturen, die es in einigen Bereichen geschafft haben, ein Ideal zu leben während es einen an anderen Ecken gruselt.
Persönlich würde ich empfehlen, Vokabeln wie “modern” spärlich einzusetzen und “entwickelt” am Besten ganz aus dem Wortschatz zu streichen. Denn damit driftet man sehr schnell in bräunliche Gewässer ab, die wirklich niemand von uns mit “modern” oder “entwickelt” verwechseln sollte.