Der Artikel entstand zuerst als Thread auf Twitter. Er wurde fürs Blog nachbearbeitet und erweitert.
Content Notiz: Abbildung der Folgen schwerer körperlicher Gewalt (am Ende des Artikels).
tl;dr: Das angebliche OSZE-Dokument stammt in Wirklichkeit von einer russischen Organisation, die sich bereits im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Syrien mit Desinformation hervortat. Diese Organisation gibt sich den Anschein seriöser Beobachtung angeblich extremistischer Organisationen, war aber bereits in der Vergangenheit an Desinformationskampagnen beteiligt, z.B. gegen die syrische Freiwilligenorganisation “Weiße Helme“. Das Dokument wurde als Statement zu einem Treffen von Mitgliedsstaaten der OSZE mit zivilgesellschaftlichen Organisationen eingereicht und kann daher noch vom OSZE-Server abgerufen werden. Der Wahrheitsgehalt des Dokuments muss bezweifelt werden.
Mal wieder ein kleiner Exkurs in Desinformation. Russische Kriegsverbrechen sind natürlich ein Faktor gerade auch in der öffentlichen Debatte in Deutschland. Das Narrativ von Wagenknecht, Schwarzer etc. lautet ja ungefähr: “Die Ukraine soll sich endlich ergeben, damit Ruhe ist.”
Und: “So schlimm wird’s schon nicht werden.”
Von Beginn an, gab es auch den Versuch, Hilfe für die Ukraine mit der Behauptung zu verhindern, dass die Ukraine angeblich genauso schlimm sei.
Und da gäbe es ja auch sogar einen OSCE[fn]Organization for Security and Co-operation in Europe. Auf Deutsch OSZE: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa[/fn]-Bericht der Menschenrechtsverletzungen des ukrainischen Sicherheitsdiensts SBU[fn]Ukrainischer Inlandsgeheimdienst und Nachfolgeorganisation des KGB[/fn] beweisen würde[fn]Archivlink[/fn] …
Ja, wenn das der Fall wäre, wäre das schon ein ziemliches Ding. Aber: sehen wir uns den angeblichen “OSCE-Bericht” doch mal genauer an. Shall we?
Zuerst: Der “Bericht” liegt tatsächlich auf den Server der OSCE. Das gibt dem ganzen ja schon mal einen Anschein von Seriosität. Er liest sich auch ziemlich vernichtend. Der gemeine Russentroll würde nun sagen: “Und in den Mainstream-Medien liest man gar nichts davon!!! Zensur!!!”
Well. Nein. Das ist der Beweis, dass man “Seriosität” bzw. die OSCE hacken kann.
Wie schaffen die das? Und wer genau?
Der Hack
Man nimmt an einer wichtigen Konferenz der OSCE teil. Zum Beispiel an den “Supplementary Human Dimension Meetings”.
Okay, well. “Supplementary” klingt jetzt nicht sooo wichtig, aber hey, Details. Aber worum gehts bei diesen “Meetings” denn nun genau[fn]Eine etwas ausführlichere Rolle und Beschreibung der Meetings findet man auf der Webseite der Botschaft Österreichs in den USA. Es gibt ein großes offizielles Meeting in dem die Mitgliedsstaaten ihren Bürgern quasi schuldig sind, Menschenrechtsproblematiken anzuhören und es gibt jährlich drei ergänzende Meetings, die sich mit aktuellen Themen beschäftigen. [/fn]?
Ah, well: "The Supplementary Human Dimension Meetings provide opportunity for dialogue and exchange of views between participating States, and civil society actors on the existing good practices and challenges about specific topics."
Heißt, es geht um einen Meinungsaustausch.
Und auch ein bisschen, um mal Probleme angesprochen zu haben.
Dieser spezielle Meinungsaustausch fand im April 2016 statt. Teil nahmen Delegationen von Mitgliedsstaaten, das UNHCR und "die Zivilgesellschaft". Übersetzt: NGOs, religiöse Organisationen, wie die Zeugen Jehovas etc.
Alle Statements, die zu dieser Konferenz eingereicht wurden, sind weiterhin auf dem OSCE-Server abrufbar.[fn]Archivlink[/fn]
So z.B. auch die Flut Statements der Zeugen Jehovas:
Und auch zwei Statements der “The Foundation for the Study of Democracy”. Diese wird hier unter den "Zivilgesellschaftlichen Beiträgen" aufgeführt (In der Liste abgekürzt als: "The Foundation for the Democracy”)
Wenn man nicht ganz aufpasst, könnte man den Namen sogar mit der “Foundation for Defense of Democracies” verwechseln, ein ziemlich bekannter und einflußreicher US-Thinktank[fn]In der englischsprachigen Wikipedia wird dieser Thinktank als “hawkish” (kriegstreiberisch) und “neoconservative” beschrieben. In der Selbstdarstellung nennt sich der Thinktank dagegen überparteilich.[/fn].
Zufall? Well. Maybe.
Egal. Diese “zivilgesellschaftliche” Organisation reichte also für einen Diskussion von rund 2 Stunden mit einer Zillion Teilnehmer einen “Bericht” über angebliche Gräueltaten der ukrainischen Sicherheitskräfte ein.
Soweit ich es dem Prozedere entnehmen kann, wurden die Statements gar nicht verlesen, sondern lediglich den Teilnehmern zugänglich gemacht (oder verteilt). Umfangreichere Berichte wurden, sehr wahrscheinlich, weder verlesen noch vorgestellt[fn]Short Agenda, Annotated Agenda, General Information[/fn].
Im Abschlussbericht spielen die im Bericht erhobenen Vorwürfe auch gleich gar keine Rolle[fn]Archivlink[/fn].
Dass man einen offiziellen Bericht der OSCE über massive Menschenrechtsverletzungen durch die Ukraine während eines offiziellen Treffens überhaupt nicht bespricht und im Abschlußbericht auch nicht erwähnt, ist eigentlich schwer vorstellbar.
Was ist “The Foundation for the Study of Democracy”?
Aber wer steckt denn nun hinter “The Foundation for the Study of Democracy”?
Nun … fragen wir doch mal die russische Vertretung innerhalb der UN:
Die veröffentlichte nämlich den Inhalt eines Briefings durch den Direktor besagter Foundation.
Und in diesem Briefing geht es um die syrische Hilfsorganisation die “Weißen Helme”. Die habe z.B. Szenen gestellt und hätten somit den Einsatz von Chemiewaffen durch das Assad-Regime vorgetäuscht.
Achso. Die “zivilgesellschaftliche” “Foundation for the Study of Democracy”, die eigenen Angaben nach “extremistische und terroristische Ideologien weltweit” beobachtet, spricht also vor der UN. Im Auftrag der Russischen Vertretung?
Auf einmal wackelt das “zivilgesellschaftlich” schon ein bisschen, hm?
Wenn man den Namen der “Foundation” googelt oder den Namen des Direktors Maxim Grigoriev, dann findet man dessen Wirken fast nur im Zusammenhang mit Russischen Botschaften oder Russischen Vertretungen.
Fazit
Mein Fazit: Es entsteht der Eindruck, als habe eine russische Propagandaorganisation im zivilgesellschaftlichen Tarnfleck die Prozeduren der OSCE gehackt und der Organisation einen “Bericht” getarnt als Diskussionsbeitrag für ein Meeting untergejubelt.
Wird nun direkt auf diesen verlinkt, sieht er offiziell aus, auch, da man frech den Namen des Meetings im Titel des Dokuments untergebracht hat[fn]Archivlink[/fn].
Für den flüchtigen Leser sieht es, zusammen mit der URL danach aus, als handele es sich tatsächlich um ein von der OSCE sanktioniertes Dokument.
In Wirklichkeit ist es ein Dokument, das direkt aus einer russischen Propaganda-Schmiede stammt und der Inhalt ist daher mit äußerster Vorsicht zu genießen.
Der Inhalt ist möglicherweise übertrieben, möglicherweise unzutreffend. Es ist kein offizielles Dokument. Es wurde keiner Qualitäts- und Quellenprüfung unterzogen. Es wurde nicht von einer neutralen Instanz erstellt.
Es handelt sich NICHT um ein offizielles, abgesegnetes Dokument der OSCE.
Originally tweeted by Mela Eckenfels (@Felicea) on 2. March 2023.
Fußnoten
[[references]]